In meinem Eintrag über Heavy Rain hatte ich erwähnt, dass ich meine Meinung so lange zurückhielt, bis ich es tatsächlich durchgespielt hatte anstatt nur angespielt. Als Begründung führte ich an, dass ich mich der passiv-aggressiven und diskussionstötenden Frage “Hast du es überhaupt gespielt?” entziehen wollte. Aber warum eigentlich? Warum werde ich aus der Konservation über ein Spiel automatisch ausgeschlossen, wenn ich es nur mal kurz angeschaut oder sogar noch gar nicht selbst in der Hand hatte? Wieso wird meine Meinung in dem Moment hinfällig?
Steven Poole stellt genau diese Frage in seiner Edge-Kolumne und nimmt wohl das derzeit krasseste Beispiel dazu her: Die Folterszene in GTA V (die ich tatsächlich bereits gespielt habe!). Er hat das Spiel nie gespielt, aber gelesen was andere dazu schrieben und Auszüge auf YouTube gesehen. Das reichte für ihn aus sich eine Meinung zu bilden und mit in die Diskussion darüber einzusteigen — und ich stimme ihm da bis zu einem gewissen Grad zu.
Das Wissen
Wir leben im Informationszeitalter. Ich weiß nicht nur bereits viel mehr über einen Titel bevor er überhaupt veröffentlicht wurde, als früher. Auch nach der Veröffentlichung sind es gerade die Artikel, die Videos und dergleichen, die mein Wissen über das jeweilige Spiel noch weiter vertiefen und mir mitunter so eine viel tiefgründigere Seite aufzeigen als mir beim eigenen Spielen selbst aufgefallen ist beziehungsweise wäre. Da brauchen wir nicht einmal das Extrembeispiel Spec Ops: The Line hervorziehen, wo die genaue Analyse sogar ein ganzes Buch füllt. Am Freitag hatte ich beispielsweise einen sehr interessanten Artikel bei The Escapist über Dishonored entdeckt, der eine interessante Sichtweise auf den Outsider bietet.
Dank dieser Fülle an Informationen und Eindrücke, wenngleich sie mitunter erst einmal nur eine Interpretationsweise der Tatsachen sind, kann ich mir sehr wohl bereits einen Überblick verschaffen und eine Meinung bilden. Schlimmer noch: Wir machen es alle schon immer! Was ist denn der Sinn und Zweck von Vorschauberichten, Trailern, Screenshots und dergleichen? Genau: Euch und damit eure Meinung in eine bestimmte Richtung zu steuern. Egal ob ihr sagt “Das sieht scheiße aus” oder “Das könnte Interessant sein”. Beides ist unsere aktuelle Ansicht, die wir auch ohne groß zu überlegen äußern und zwar ohne, dass wir selbst Hand angelegt hätten. Selbst ein Test ist nichts anderes als eine Unterstützung. Warum werden also plötzlich nach der Veröffentlichung all diejenigen ausgeschlossen, die es sich noch nicht gekauft haben, obwohl es gerade dann so richtig ans Eingemachte geht?
Das Gegenargument
Jetzt wird der ein oder andere vielleicht darüber nachdenken die “Selbst erleben ist was ganz anderes als darüber lesen”-Keule rauszuholen. Und warum auch nicht? Machen wir bei der Killerspiele-Diskussion doch auch immer. Wenn ein ahnungsloser Politiker mal wieder seinen Mund aufmacht und gewaltätige Titel verurteilt, ist die erste Frage, die wir ihm stellen: “Hast du überhaupt jemals das Ding selbst gespielt?”. Und bis zu einem gewissen Grad stimmt das natürlich auch. Kann ich beurteilen wie emotional dieser und jener Moment in The Last of Us ist, ohne es tatsächlich selbst gespielt zu haben? Höchstwahrscheinlich nicht. Das bedeutet aber nicht, dass ich damit automatisch über keinen einzigen Aspekt des Titels mitdiskutieren kann. Laras “Beinahvergewaltigung” muss ich beispielsweise nicht zwingend selbst erlebt haben, um über Sinn und Unsinn dieser Szene diskutieren zu können solange ich das komplette Video kenne (nicht den irreführenden Trailer).
Denn was wir den Politiker tatsächlich fragen ist, ob er überhaupt weiß wovon er redet. Das ist der springende Punkt. Ihm nehme ich meistens nicht ab, dass er sich überhaupt mal ernsthaft mit dem Thema auseinandergesetzt, also sich die Informationsfülle zu Nutze gemacht hat. Aber ich würde mal behaupten, dass das bei uns anders ist. Wir haben haufenweise Erfahrung im Rücken und können schon alleine deshalb bis zu einem gewissen Grad mitreden.
Der Unterschied
Wir haben uns über den Titel aber auch mehr oder weniger ausführlich informiert und vielleicht sogar schon einmal selbst reingeschnuppert und wissen somit normalerweise, um was es in der jeweiligen Diskussion eigentlich geht, bevor wir anfangen uns daran zu beteiligen. Ja, es gibt natürlich eine Vielzahl an Leuten im Internet, die das anders machen und über Sachen reden, von denen sie keine Ahnung haben. Aber da sind wir dann wieder beim Politiker.
Bei mir ist da aber nicht der Fall, deshalb maße auch ich es mir an über Spiele zu schreiben und mitzudiskutieren, die ich (noch) nicht selbst gezockt habe. Merken tut ihr es, wenn ich meinen Job gut mache, sowieso nicht. Und ihr dürft euch sicher sein, dass ich das über die Jahre hinweg nicht nur hier auf diesen Seiten definitiv bereits mehr als nur einmal getan habe und auch in Zukunft sicher noch weiter tun werde. “Bullshitten” ist glaube ich der englische Fachbegriff dafür. Nein, Assassin’s Creed III war nicht so ein Fall. Das hatte ich damals vor den NOCAs tatsächlich ein paar Stunden angespielt gehabt. Der Punkt ist auf jeden Fall, dass ich mich in der Lage fühle bei ausreichender Informationsgrundlage selbst ohne Eigenerlebnis fundierte Argumente vorzubringen.
Die Täuschung
Das ist sowieso die große Kunst eines guten Journalisten, womit wir beim Thema “Durchspielen” wären. Niemand wird ernsthaft glauben, dass jeder Tester tatsächlich jedes Spiel von Anfang bis Ende gesehen hat. Und die, die es immer fordern sind einfach nur dumm. Wenn das Testmuster kurz vor knapp kommt, ist dafür doch bei vielen Titeln gar keine Zeit. Ich nehme mich da auch nicht aus. Wie sollte ich bitte innerhalb von 2-3 Tagen jeweils nach Feierabend die Kampagne eines umfangreichen Werkes wie Tropico 4 schaffen und dann auch noch einen mehrseitigen Test dazu verfassen? Das geht gar nicht. Zille hatte es zwar am Ende doch gemerkt, weil ich die Länge der Kampagne positiv hervorhob obwohl sie sich in der zweiten Hälfte schlicht wiederholt (was ich logischerweise nicht wissen konnte, weil ich soweit eben nicht gespielt hatte). Aber das sind die absoluten Ausnahmen. Und an der Wertung hätte diese Erkenntnis auch nichts mehr geändert.
Es ist nämlich so, dass in allermeisten Fällen die Note/das Bauchgefühl bereits nach 2-3 Spielstunden ziemlich fest steht. Und so geht es nicht nur mir, wie auch Steven Poole schreibt. Es gibt nur äußerst wenige Spiele, wo ich mich später doch noch umentscheide, weil tatsächlich noch etwas Phänomenales passiert (Spec Ops: The Line ist wieder eines der wenigen Beispiel wo es gefährlich ist, nur den Anfang zu spielen) oder es plötzlich extrem absackt. Klar, die Fälle kommen vor und wenn es jemanden auffällt, dass der jeweilige Tester sich den Titel nur fünf Minuten angeschaut hat, dann ist es entsprechend peinlich. Aber diese Ausrutscher sind ganz klar in der Ausnahme wie damals Silent Hunter 5: Battle for the Atlantic bei der GameStar oder S.T.A.L.K.E.R.: Call of Pripyat bei PC Games/PC Action. Und das Argument “Nach 25 Spielstunden wird Final Fantasy XIII endlich gut!” führt nicht dazu, dass es plötzlich eine 90%-Wertung erhalten würde, wie ihr sicherlich nachvollziehen könnt. Solange der Autor also erfolgreich “kaschieren” kann (beispielsweise indem er sich sein fehlendes Wissen woanders herholt), dass er nicht alles gesehen hat, ist alles im grünen Bereich. Dementsprechend sage ich auch hier: Warum jemanden von der Diskussion ausschließen, nur weil er nicht das komplette Spiel gesehen hat? Dass The Elder Scrolls V: Skyrim kein gutes Rollenspiel ist, weiß man doch spätestens nach dem Title Screen .
Fazit
Ich bin also insofern Steves Meinung, dass man nicht zwingend etwas durchgespielt oder gar angespielt haben muss, um mitdiskutieren zu können. Ich betone aber gleichzeitig, dass das jetzt kein Freischein ist, um einfach nur irgendwelchen Mist daherzublubbern wie es leider doch oft passiert. Denn ich setze ganz klar voraus, dass ich das fehlende Hands-on-Wissen dann natürlich anderweitig in gewisser Weise ersetzt habe bevor ich mich in die Höhle des Löwen begebe. Und gleichzeitig sollte man natürlich trotzdem so ehrlich sein und seine Meinung ändern, wenn man dann doch mal den jeweiligen Titel gezockt hat und feststellt, dass man sich täuschte. Da gibt es selbstverständlich auch bei mir so einige Kandidaten, bei denen ich das getan habe.
PS: Das Thema ist natürlich nicht nur auf Spiele bezogen. Diese Tendenz jeden abzuwürigen, “der es nicht selbst erlebt hat”, gibt es in praktisch allen Bereichen. Ganz besonders heiß sind die Diskussionen vor allem wenn es um Kinder geht und die Eltern jedwede Kritik von sich wenden mit dem Argument, dass man ja keine Ahnung hat, weil man selbst keine hat und so. Aber um diese kleinen und nervigen Quälgeister geht es ja hier beim Christoph bekanntlich nicht.
Ich denke, die Killerspieldebatte und “sich eine Meinung bilden” sind zwei paar Schuhe. Bei der Killerspieldebatte geht es eigentlich darum, was man bei solchen Spielen fühlt und was sie in uns auslösen.
Bei “sich eine Meinung bilden” handelt es sich eher um das Oberthema. Über manche Themen kann man sich in der heutigen Zeit auch ohne ein eigenes “hands on” eine meinung bilden. Etwa darüber, ob ich Folterszenen nachspielen will, oder nicht.
Thema Tropico 4: Dein Test war ja dadurch nicht verkehrt. Ich habe das übrigens bei keiner(!) Spielewebsite als Kritikpuntk finden können. Damit liegen letztlich alle Tests, die ich gelesen habe, bei der Langzeitmotivation grundlegend falsch. Tropico 4 ist in der Hinsicht klar schlechter als Tropico 3. Und das Urteil traue ich mir zu, weil ich T3 inkl. Addon zu 95% durchgespielt habe, T4 aber bei Mission 13 abgebrochen habe, weil die Karten sich wiederholt hatten. Der eigentliche Skandal ist, dass der Entwickler damit ungestraft durchgekommen ist. Das lässt für Tropico 5 auf nichts gutes hoffen.
Es mag wenig überraschen, da ich bestimmt die Hälfte aller Spiele nur durch Previews / Let’s Plays für mich persönlich bewerte und dann meine Meinung dazu kund tue.
Aktuelles Beispiel ist PvZ Garden Warfare… Ich habe jetzt das offizielle 4er COOP Video dazu gesehen und weiß direkt, dass das was für mich wird. Ich mag die Charaktere, den Stil und Tower Defense. Ich finde es gut, dass es sich wie Dungeon Defenders aber offensichtlich ohne Grinding zu spielen scheint. Wunderbar. Mich interessiert nicht, dass es von EA ist und dass es vergleichbar teuer (=Vollpreis ca. 35,-€) von mir erworben werden wird.
https://www.youtube.com/watch?v=zqjLVhqTDJ0&feature=youtu.be