Es ist tatsächlich auch schon wieder fast zehn Jahre her, seit ich Bayern verlassen habe und zu einem Hessenbock wurde. Mein damaliger Mietvertrag startete am 16. August 2014 und am 1. Oktober trat ich meine neue Stelle in Darmstadt an – auf der ich immer noch sitze. Ich weiß: Viel zu lang! Schließlich soll man doch spätestens alle fünf Jahre wechseln oder so. Aber das ist heute nicht unser Thema. Stattdessen habe ich mit dem Wechsel des Bundeslandes zwar drei Feiertage verloren, dafür jedoch das Recht auf eine Woche Bildungsurlaub jedes Jahr “erworben”. An sich also gar kein schlechter Deal .
Allerdings habe ich meinen ersten Bildungsurlaub erst Ende 2016 angetreten, wie ich gerade feststellen musste. Meinen Anspruch für 2014 und 2015 habe ich scheinbar verfallen lassen. Fragt mich nicht warum. Vermutlich kannte ich das Konzept einfach noch nicht so richtig und/oder hatte (unbegründete) Vorbehalte. Das Thema ist ja selbst heute immer noch vergleichsweise unbekannt – und so mancher Arbeitgeber tut sein Übriges, um einen davon abzuhalten Bildungsurlaub zu nehmen. Ich kann es weiterhin absolut nur empfehlen für alle, die darauf Anspruch haben. Mehr Infos gibt es immer noch auf der Seite Bildungsurlaub.de oder euren lokalen Volkshochschulen.
Und der Vollständigkeit halber hier die Übersicht über meine bisherigen Bildungsurlaube. Soweit vorhanden, sind meine entsprechenden Einträge dazu verlinkt.
- 2014: keiner
- 2015: keiner
- 2016: Gesundheit ganzheitlich fördern – Stimmigkeit und Balance entwickeln (dazu hatte ich damals keinen Eintrag geschrieben)
- 2017: Japan: Kultur und Sprache
- 2018: Erfolgreich und gelassen in Beruf und Alltag – Stressbewältigung und Kommunikation (Wertschätzende Kommunikation)
- 2019: Kraft durch Klarheit (Wertschätzende Kommunikation)
- 2020: Das Züricher Ressourcenmodell
- 2021: Keiner meiner gebuchten Kurse fand tatsächlich statt.
- 2022: Nach Hause kommen ….zu mir – Kraftquellen im Ungewissen
- 2023: Rhetorik und Kommunikation
Und 2024? Nun, der fand just letzte Woche statt und hieß
Stressbewältigung durch Achtsamkeit in Gesellschaft und Beruf
Hinter dem sperrigen Titel versteckt sich die Methode Mindfulness-Based stress Reduction (MBSR). Sie wurde 1979 vom Verhaltensmediziner Jon Kabat-Zinn und seinen Kollegen der Stress-Reduktions-Klinik an der Universität von Massachusetts entwickelt. Die Wirksamkeit dieser Methode wurde über die Jahre wohl durch so einige wissenschaftliche Studien bestätigt. Ist also kein Esoterikkram, wie unsere Trainerin ebenfalls betonte. Allerdings ist es mal wieder so ein Fall, wo ich als Laie mich frage “Dafür brauchte es eine Studie?! Ist doch klar, dass sich durch stilles Rumsitzen mein Stresslevel senkt!” Und obwohl Herr Kabat-Zinn dem ganzen eine Struktur und einen Namen gegeben hat, ist das an sich alles nichts Neues, sondern wird vor allem in Religionen wie dem Buddhismus schon seit hunderten von Jahren praktiziert. Kabat-Zinn ist zudem nicht allein auf dem Gebiet unterwegs.
Ich sein
Nun, fangen wir von vorne an: Achtsamkeit bedeutet in diesem Zusammenhang einen bestimmten Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand einzunehmen. Also nicht die Achtsamkeit gegenüber anderen Menschen, sondern gegenüber sich selbst. Ziel ist es im Moment/der Gegenwart zu sein und euch ohne Urteil darauf zu konzentrieren, statt im gestern oder morgen festzuhängen oder sich auf andere Art und Weise ablenken zu lassen. Man könnte es auch als eine spezielle Art der Meditation beschreiben. Und ja, mit geschlossenen Augen einfach nur dasitzen ist eine der dazugehörigen Übungen. Sowieso gibt es viele Überschneidungen mit anderen Methoden, die hier allerdings etwas anderes eingesetzt werden. So gibt es Übungen aus dem Yoga und dem Thai Chi und der Bodyscan (jedes Körperteil wird erfühlt).
Den Großteil der Woche haben wir entsprechend in Stille verbracht – im Sitzen, im Liegen, im Gehen, beim Essen und bei den leichten “Sporteinlagen”. Und das dann alles sehr bewusst. Kein Gedankenkreiseln, keine Planung des Abendessens, kein Zurückdenken an frühere Bildungsurlaube. Stattdessen das alles ausgeblendet, indem wir uns z.B. auf die eigene Atmung konzentriert haben und darauf, wie bei jedem Schritt der Fuß auf den Boden aufkommt. Oder die Umgebung wahrnehmen (singende Vögel, das Grün am Wegesrand, etc.) und die Bewegung des Arms während der Thai-Chi-Runde. Weitere Möglichkeit: Beim Essen und Trinken so richtig seine Kost genießen. Sie mit allen Sinnen erfassen (Sehen, Tasten/Fühlen, Riechen, Hören, Schmecken) und den Akt auf seine Art quasi zu zelebrieren. Wenn ich Wein trinken würde, würde ich es vermutlich mit einer Weinprobe vergleichen. Alles in allem auf jeden Fall auf der einen Seite irgendwie ungewohnt aber gleichzeitig sehr erholsam und meditativ – zumindest, wenn man sich darauf einlassen kann. Für die hibbeligeren unter uns ist das wahrscheinlich nichts.
Die Grundhaltungen
Diese Übungen sind jedoch faktisch nur Hilfen zum Verständnis und zur Unterstützung der Umsetzung von Jon Kabat-Zinns Konzept. Am Ende des Tages geht es darum seine innere Haltung anzupassen und dadurch mit Stresssituationen besser umzugehen. Schließlich können wir uns vermutlich selten aus einem Streitgespräch mal kurz rausnehmen, um ein paar Yoga-Übungen zu machen. Wobei das vermutlich den Gegenüber vielleicht auch so überrumpeln würde, dass die Sache schon allein dadurch entschärft ist . Um das eigentliche Ziel “in der Gegenwart sein” zu erreichen, ist es entsprechend wichtig die sieben Grundhaltungen zu verinnerlichen:
- Nicht werten/urteilsfrei (non-judging) – Das klingt im ersten Moment heftiger, als es tatsächlich ist. Und zwar geht es nicht darum Dinge nicht mehr zu bewerten. Das können wir als Menschen gar nicht. Stattdessen ist es das Ziel… nun ja, achtsam zu sein. Sich also bewusst zu sein, dass man gerade eine Bewertung macht und zu akzeptieren, dass es so ist. Das hilft aus der Situation heraus zu kommen und mit ihr besser umzugehen bzw. ggf. sogar neu zu bewerten.
- Loslassen (letting go) – Im MBSR spricht man davon den Autopiloten auszuschalten. Freilich hält der uns auch am Leben. Schließlich wollen wir nicht jeden Moment daran denken ein- und auszuatmen. Aber unsere Lebenserfahrung hat dazu geführt, dass er mitunter in Momenten anspringt, wo es vielleicht sinnvoll wäre sich seinem Tun bewusst(er) zu sein. Es geht also darum diese Denkmuster mal loszulassen und neue Erfahrungen zuzulassen.
- Akzeptanz (acceptance) – Auch hier ist die Überschrift im ersten Moment vielleicht etwas irreführend. Es bedeutet nicht einfach nur alles hinzunehmen. Stattdessen ist erneut ein bewusst werden gemeint. Anzuerkennen, dass gerade etwas so ist wie es ist und so eine Distanz aufzubauen. Dank dieser Distanz kann man dann gelassener mit der Situation umgehen.
- Müheloses tun/Nicht-greifen (non-striving) – Mit Eindeutigkeit hatte es der Herr Kabat-Zinn echt nicht. Aber vielleicht gehört das mit zur Achtsamkeitsübung? Naja, auf jeden Fall ist hiermit gemeint nicht an die Zukunft zu denken, sondern die Gegenwart zu erkennen und zu nutzen. Sie ist schließlich das, was wir gerade verändern können. Oder anders ausgedrückt: Das tun, was gerade dran ist und nicht das, was man glaubt tun zu müssen.
- Anfängergeist (beginner’s mind) – Vereinfacht gesagt die eigene Erfahrung vor der Tür lassen und stattdessen ohne Erwartungen und damit unvoreingenommen an eine bekannte oder neue Sache herangehen. So kann man beispielswiese jedes Mal wieder neu erleben, wie sich das Gras unter den nackten Füßen anfühlt. Oder eine Rosine neu entdecken. Ja, wir haben die Rosinenübung gemacht. War tatsächlich nicht so schlimm, wie ich gedacht habe als Nicht-Rosinen-Esser. Und wer von uns hätte jemals laufen gelernt, wenn wir nicht so oft gescheitert wären, bis es funktioniert hat?
- Vertrauen (trust) – Diesen Punkt könnte man als “auf sich selbst hören” zusammenfassen. Es geht darum mehr Vertrauen in sich selbst zu haben. Auf die innere Stimme zu hören und die Meinungen anderer mal auszuschließen. Viel zu oft sind wir nämlich mehr damit beschäftigt uns zu fragen, was jemand anderes denkt. Dabei wäre es am Anfang wichtiger zu klären, was man eigentlich selbst möchte.
- Geduld (patience) – Eine Tugend, die in der heutigen Zeit wichtiger denn je ist. Zu erkennen und zu verinnerlichen, dass schlicht alles im Leben seine Zeit braucht und es nichts bringt immer allem hinterher zu hetzen. Das hilft dann auch in Stresssituationen mit mehr Ruhe und Gelassenheit zu reagieren.
Klingt irgendwie alles sinnvoll, oder nicht? Ich kann mir ebenfalls vorstellen, dass es uns als Menschheit sicherlich ein bisschen besser ginge, wenn wir das alle verinnerlicht hätten. Aber auf dem Papier klingt das freilich immer einfacher als es in die Realität umzusetzen. Andererseits: Ein bisschen ist immer noch mehr als gar nichts. Also beim nächsten Mal die Karotte vielleicht mal ein wenig achtsamer schnippeln!
Meine Erfahrung
So viel also grob zum Konzept des MBSR. Das Original ist wohl ein achtwöchiger Kurs, in dem dann auch mal sechs Stunden lang einfach nur still dagesessen wird. Das haben wir im Bildungsurlaub dann doch nicht gemacht. Neben den Achtsamkeitsübungen haben wir viel Selbstreflexion mit anschließender Besprechung zu zweit und der Gruppe gemacht. Zugegeben: Da war ebenfalls Achtsamkeit mit im Spiel. Nämlich achtsames Zuhören. Es durfte in den Zweiergruppen nur jeweils einer für ein paar Minuten sprechen, der andere hörte nur achtsam zu. An sich ebenfalls nix Neues, aber einfach fällt das einem mitunter trotzdem nicht so ganz. Das Bedürfnis nachzufragen, einzuhaken, seine eigenen Erlebnisse mitzuteilen ist schon extrem groß. Diese Gedanken loszulassen und einfach nur für den anderen da zu sein, zählt zur Achtsamkeit. Das ist allerdings nur die extremste Form. Auch normale Gespräche lassen sich achtsam führen .
Unterm Strich habe ich durch den Bildungsurlaub nichts bahnbrechendes Neues über mich erfahren. Er hat mir jedoch so intensiv wie noch nie gezeigt, wie wichtig es für mich ist achtsames Verhalten wirklich zu leben. Ich bin definitiv mehr so der Typ “muss alles gleich machen”. Derjenige, der sein Mittagessen in sich reinschaufelt und dabei auf dem Handy rummacht/am Computer sitzt. Sprich: Viel von meinem Stress mache ich mir tatsächlich selbst. Dass das mir und meiner Umgebung nicht gut tut, erlebe ich immer wieder. Und im Gegensatz zu manch anderem Kurs ist MBSR definitiv alltagstauglich. Beim Zähne putzen sich einfach nur darauf zu konzentrieren, beim Essen das Handy weglegen und solche Dinge – das ist nicht wirklich kompliziert oder anspruchsvoll. Man muss es halt machen.
Für mich war der Bildungsurlaub Stressbewältigung durch Achtsamkeit in Gesellschaft und Beruf tatsächlich der bislang beste, den ich hatte. Das lag zum einen an der Methode, die scheinbar echt genau mein Ding ist (war früher Tagträumer und still rumsitzen kann ich). Aber auch an der fantastischen Gruppe (alles Frauen bis auf mich… leider immer noch ein Dauerzustand in Bildungsurlauben). Wir waren alle auf derselben Wellenlänge und haben uns voll auf das Thema eingelassen. Keine unruhigen Störenfriede, sondern einfach nur in Harmonie Achtsamkeit geübt. So gechillt, wie in dieser Woche, habe ich mich glaube ich schon lange nicht mehr gefühlt – wenn überhaupt jemals. Jetzt heißt es an diesem positiven Erlebnis festzuhalten und es zu verinnerlichen!