Da stand Sicarius also. Irgendwo in der Mitte der Fasanerie. Der Boden unter seinen Füßen bedeckt mit Herbstlaub. Über ihm die sich lichtenden Kronen der Bäume. Um ihn herum war Stille. Keine Menschenseele zu hören oder zu sehen. Nur der bitterkalte Wind, der durch den Wald blies und Sicarius frösteln ließ.
Die Aufgabe war auf dem Papier ganz simpel: Erinnere dich zurück an deinen Lebensweg. Gehe in einer Spirale von heute an zurück bis du zum Ursprung gelangst – deiner Geburt.
Schon bei der Aufgabenstellung kamen bei Sicarius viele Unsicherheiten hoch, die er mit ungestellten Fragen zu kaschieren versuchte. Beispielsweise ist unser Ursprung doch eigentlich nicht die Geburt. Stattdessen wird das, was wir sind, doch theoretisch viel früher geformt. Die Erinnerung der Mutter, des Vaters und der vielen Generationen vor uns sind uns mitunter nicht bewusst. Und doch begleiten und formen sie uns ein Leben lang, wenn wir nichts dagegen tun.
Doch zurück zu Sicarius, wie er dort einsam und allein mit seinen Gedanken auf der Lichtung stand. Er behauptet immer, er könne sich an Nichts erinnern. Und ja, er hat durch seine Schwierigkeiten. Die wichtige Information der liebenden Ehefrau am Mittagstisch, die am Abend schon wieder vergessen ist. Die Erinnerung an freudige Ereignisse in der letzten Woche – sein Gehirn scheint nicht gewillt oder in der Lage sich sowas zu merken. Vielleicht erscheint ihm das alles als Unwichtig. Aber, dass z.B. QUAKE III Arena von id Software am 2. Dezember 1999 auf den Markt kam – das weiß er immer noch und auf Abruf.
Und wenn man genauer nachfragt, fallen ihm dann doch wieder einige Sachen aus der Kindheit und Jugend ein. Ja, es mag nicht viel sein. Möglicherweise hat er tatsächlich vieles vergessen oder aus Selbstschutz verdrängt. Aber, dass da Nichts wäre, ist schlicht und einfach eine Lüge, die er sich und anderen erzählt. Vielleicht aus Angst, was dabei hochkommt?
Panik stieg so langsam in Sicarius auf. Die Zeit lief ihm davon und er wusste, dass er im Anschluss an diese Übung etwas schreiben musste. Entsprechend brachte es nichts hier einfach nur zu stehen und abzuwarten. Also machte er endlich den ersten Schritt in die Spirale hinein. Es war ein ziemlich großer. Viele Jahre zurück zu seiner Hochzeit. Dann ein kleiner Schritt zum gemeinsamen Hauskauf. Gefolgt von der 1. Verabredung. Der Jobwechsel nach Darmstadt. Der Jobwechsel nach Nürnberg. Das große Projekt auf der Arbeit in Aschaffenburg.
Es waren viele kleine Schritte, die Sicarius da plötzlich ging. Die Zeit in der Redaktion von GamersGlobal. Das Journalismus-Fernstudium. Die Gründung der Webseite. Irgendwie waren da doch so einige Erinnerung, die da hochkamen. Interessanterweise aber wenige mit seinen Eltern, Geschwistern und der restlichen, buckligen Verwandtschaft. Stattdessen eher Meilensteine, die er aus seiner Sicht erreicht hat – oftmals mit der Unterstützung anderer. Das ist nämlich noch so ein Punkt. Er behauptet immer total allein zu sein. Die Realität ist aber, dass er nur selten wirklich allein war. Früher nicht so sehr geliebt und geboren, wie er sich das vielleicht gewünscht hätte. Aber alleine? Nicht wirklich.
Sicarius‘ Schritte in der Spirale wurden wieder etwas größer. Er sagt immer, dass sein Leben erst mit 21 Jahren begann. Als seine Geschwister und er endlich dem Vater die Stirn bieten konnten. Als er nach der Ausbildung endlich etwas fand, was ihm Spaß bereitete. Und er endlich die endlosen Jahre an der Schulbank hinter sich lassen konnte.
Davor ist ein ziemlich großes Loch. Erinnerungsfetzen, meist an keine schönen Ereignisse wie Mobbing in der Schule, die Situation Zuhause und dergleichen. Entsprechend schnell gestaltet sich Sicarius‘ weiterer Weg zur Mitte der Spirale. Allerdings kommt er nicht im Mittelpunkt zum Stehen. An seine Geburt kann er sich nämlich nicht erinnern. Und Erzählung dazu kennt er ebenfalls nicht. Stattdessen endet seine Reise an seiner ersten Erinnerung, derer er sich selbst bewusst ist. Er war im Kindergarten. Es wurde gebastelt. Pappmaché-Hühner, die dann mit echten Federn beklebt wurden. Sicarius hat davon nur den Anfang erfahren, bevor er von seiner Mutter abgeholt und zu den Großeltern gebracht wurde. Die Federn hatten erstmals sein Asthma zum Vorschein gebracht.
(handschriftlich verfasst im Rahmen des Bildungsurlaubs Autobiografisches Gestalten und Schreiben)