Öffentliche Bücherboxen sind schon was echt Praktisches. Ja, die Leute stellen mitunter auch viel Mist rein. Reiseführer oder Gesetzestexte von vor 20 Jahren, Fachbücher zu Windows ME und sowas. Aber grundsätzlich sind sie mittlerweile eine angenehme Institution, in der man einfach mal zwanglos stöbern kann und dabei das ein oder andere Buch findet, was man vielleicht sonst nicht entdeckt/gelesen hätte. Kostet schließlich nichts es einfach mitzunehmen und wenn es nicht gut genug für einen dauerhaften Platz im Regal ist, geht es halt wieder zurück. Entsprechend haben wir bereits so einiges mitgenommen – aber zugebenermaßen noch nicht jedes davon gelesen. In der Casa Lysanda befinden sich definitiv zu viele Unterhaltungsmedien verschiedenster Art .
Doch ein Buch haben sowohl Lysanda (sogar 2mal!) und ich mittlerweile gelesen. Eingepackt habe ich es nur aufgrund des Titels:
Muss ich mich aufgeben, um von Dir geliebt zu werden?* (Jordan & Margaret Paul: Do I have to give up me to be loved by you?; 2000) – Das englische Original ist sogar schon 1983 erschienen, doch dieses psychologische Fachbuch hat tatsächlich kein bisschen an Aktualität verloren. Das Autorenpaar war damals in der Sexualtherapie tätig und stellte fest, dass die Beziehungen ihrer Klienten nach der vermeintlich erfolgreichen Therapie zügig wieder schlechter wurden. Es war quasi wie bei einer Diät. Man versuchte zwanghaft eine Veränderung zu erzwingen. Das klappt mitunter auch einige Zeit. Aber früher oder später fallen die meisten wieder ins alte Verhaltensmuster zurück. Oder wie sie es im Buch ausdrücken:
“Die Veränderungen beeinflussten die Qualität der Beziehung kaum. Die emotionale Distanz zwischen den Partnern blieb bestehen. (Paul & Paul, 2000, S. 10)
Entsprechend versuchten die beiden herauszufinden, woran das lag. Schon allein, weil auch ihre eigene Beziehung darunter litt. Warum funktionierte der klassische Gedanke nicht, dass man einfach nur genug Willenskraft braucht, um etwas zu verändern? Und als sie die Antwort darauf hatten, entwickelten sie daraus die “Intention Therapy” oder auf Deutsch “Absichtstherapie”.
Ich muss mich schützen!
Der Grundgedanke ist, dass die meisten Probleme dadurch entstehen, dass wir versuchen uns zu schützen. Also aufgrund unserer Schutzmechanismen. Ein einfaches Beispiel: Ich habe Angst davor, dass mein Partner mich verlässt. Meine inneren Schutzmechanismen versuchen deshalb ihm meine Unzulänglichkeiten nicht zu zeigen. Dabei ist es egal ob diese real sind oder ich mir diese nur einbilde. Durch dieses Verhalten schaffe ich jedoch eine Lücke/Distanz zwischen mir und meinem Partner. Er soll mich ja nicht so sehen, wie ich wirklich bin. Das allerdings führt erst recht dazu, dass er sich einsam, ausgeschlossen oder nicht gesehen fühlt. Und dann verlässt er mich deswegen. Was will er schließlich in einer Beziehung, wo es keine Nähe gibt?
Außer der Bereitschaft zu lernen dient jedes andere Verhalten in einem Konflikt dem eigenen Schutz. (Paul & Paul, 2000, S. 24)
Und dieses Verhalten zeigt sich in drei Formen: Da gibt es die Anpassung also, dass ich versuche den Konflikt schlicht zu vermeiden. Da bin ich zugegebenermaßen sehr geübt drin. Und am einfachsten vermeide ich den Konflikt, indem ich meinem Gegenüber einfach zustimme. Der typische Mitläufer quasi. Das Gegenteil ist der Versuch die Kontrolle zu gewinnen. Der andere MUSS umgestimmt werden. Es gibt keine Alternative. Und als drittes die Gleichgültigkeit. Der Konflikt wird also schlicht ignoriert.
Erkenntnis gewinnen
Die bekannteste/lauteste Form eines Konflikts ist sicherlich der Streit. Ein klassischer Machtkampf, um die Kontrolle zu gewinnen. Denn wenn ich die Kontrolle habe, bin ich geschützt. Aber gelernt habe ich dadurch nichts. Nehmen wir die Situation, dass euer Partner den Müll rausbringen soll. Er wollte es machen, hat es aber bis jetzt nicht getan. Nun geht ihr hin und sagt ihm, dass der Müll noch nicht rausgebracht worden ist. Der Vermeider würde jetzt einfach den Müll rausbringen. Der Gleichgültige würde euch vielleicht einfach nur ignorieren. Und bei einem Machtkampf würdet ihr euch jetzt streiten darüber, warum nicht du, sondern er den Müll rausbringen muss.
Optimal wäre es, wenn ihr in dieser Situation anfangen würdet zu erforschen, was das eigentliche Problem ist – also die dahinter liegende Absicht zu finden. Vielleicht mag der Partner es gar nicht den Müll rauszubringen. Möglicherweise wegen eines Vorfalls in seiner Kindheit. Oder er ist heute so fertig mit der Welt, dass er keine Kraft mehr dazu hat. Es geht quasi darum euer Gegenüber besser kennen zu lernen und gleichzeitig auch sich selbst. An einem Konflikt sind schließlich in der Regel beide beteiligt. Die eigenen Schutzmechanismen lösen nämlich gleichzeitig die des anderen aus. Warum ist es mir beispielsweise wichtig, dass er den Müll rausbringt? Ich könnte es ja einfach selber machen. Vielleicht, weil ich Angst habe im Dunkeln rauszugehen?
Fast alle Barrieren entstehen durch die Art und Weise, wie Menschen mit Konflikten umgehen. (Paul & Paul, 2000, S. 20)
Zwischen Einsicht und Umsetzung
Aber was mache ich jetzt mit dem, was ich beim Erforschen gefunden habe? Häufig hilft es ja schon, wenn man erkannt hat, warum etwas ist wie es ist. Warum ich in einer gewissen Situation so reagiere und immer wieder in alte Muster zurückfalle. Ich kann also mit dieser Information erstmal arbeiten und schauen, ob sich dadurch etwas verändern lässt. Ich könnte mich im Alltag selber beobachten und nach und nach versuchen die entsprechende Situation zu verändern und anders zu reagieren als bisher. Quasi mein System Mensch umzuerziehen, aus dem erzwungenen Verhalten herauszugehen und neue Möglichkeiten zu erschließen. Weil das Verhalten, das hier zu Tage kommt, habe ich mir ja nicht ausgesucht, sondern wird von meinen Schutzmechanismen erzeugt.
Beim Erforschen müssen übrigens nicht beide Partner mitmachen. Ihr könnt genauso nur euren eigenen Anteil erforschen. Da euch euer Partner aber (hoffentlich) am besten kennt, ist es nicht ideal es allein zu tun. Außerdem ist es meist schwierig einen ehrlichen Blick auf sich selbst zu werfen. Auch hier sind mitunter Schutzmechanismen am Werk, die das verhindern. Und im Worst Case sind dahinter NOCH mehr Barrieren. Denkt an eine Matrjoschka. Im Buch erzählen die Autoren beispielsweise von einem Mann, der am Ende zwölf Gründe fand, warum er nicht mit seiner Familie Ski fahren wollte.
Unsere Gesellschaft macht es uns ebenfalls nicht leicht, indem sie immer nur auf das Ergebnis schaut und nicht auf den Prozess. Wie der Müll schlussendlich rausgekommen ist, ist egal. Hauptsache er ist draußen. Wie sich die Beteiligten dabei fühlten oder welche Konflikte dabei auftraten, ist uninteressant. Die Beziehung wächst dabei aber nicht, weil die Konflikte erhalten bleiben. Damit diese zu einer lt. den Autoren “mitwachsenden Beziehung” werden kann, müsste man aber die Schutzmechanismen erforschen und zu bearbeiten. Das ist häufig wichtiger als das Problem selbst anzugehen. Denn wenn die Barriere weg ist, gibt es möglicherweise gar keins mehr.
Neugier, offen fürs Lernen ist die natürliche Absicht. […] Schutzmechanismen hingegen sind Strategien, die wir entwickelt haben, um Situation zu bewältigen, die uns Angst machen. (Paul & Paul, 2000, S. 22)
Für was bin ich der Chef?
Ein Kind möchte von Geburt an lernen. Es ist frei etwas auszuprobieren, unabhängig von Erfolg oder Versagen. Als Erwachsene verstecken wir uns hingegen hinter unseren Schutzmechanismen – egal ob bewusst oder unbewusst. Bei der Absichtstherapie geht es darum Freiheit zurückzugewinnen. Und darum sollten sich die Partner gegenseitig ermutigen zu erforschen, um sich und den anderen besser kennen zu lernen.
Aber was ist, wenn meinem Partner nicht gefällt, was er jetzt kennen lernt? Damit sind wir wieder am Anfang: Die Angst vor Zurückweisung. Das ist für viele die größte Angst – nicht nur in einer partnerschaftlichen Beziehung, sondern in jeder. Um jedoch einander näher zu kommen, muss ich meine Schutzmechanismen/Sicherheit aufgeben. Nur so wird – wie es die Autoren nennen – liebende Nähe möglich. Ich übernehme in dem Sinne die Verantwortung für meine Wünsche. Ich gebe sie dabei nicht auf, sondern erforsche warum sie nicht erfüllt werden. Denn wer frei tun kann, was er möchte, ist nicht verantwortungslos. Er übernimmt stattdessen die Verantwortung für seine Gefühle. Wie wir auf jemanden reagieren, ist nämlich immer unser eigenes Problem. Dafür kann der andere nichts. Umgekehrt sind wir aber auch nicht für sein Glück oder Unglück verantwortlich.
Wenn wir einmal glauben für die Gefühle des anderen verantwortlich zu sein, leben wir in einem Gefängnis aus Vorwürfen und Schuld, ohne zu sehen, dass Freiheit, geboren aus der Verantwortung für unsere Entscheidungen für uns möglich ist. (Paul & Paul, 2000, S. 219)
Epilog
Wie ihr seht, hat Lysanda und mich das Buch sehr beschäftigt. Für Lysanda waren die Grundprinzipien zwar nichts Neues, aber es haben sich für sie Zusammenhänge nochmal besser erklärt. Und sie darin bestätigt, was sie denkt. Ich hatte es hingegen eingepackt, weil ich mich im Titel wiedergefunden habe. Ich bin definitiv einer, der sich zum vermeintlichen Wohle der Partnerschaft lieber aufgibt. Entsprechend hat mir Muss ich mich aufgeben, um von Dir geliebt zu werden?* zwar nicht unbedingt aus der Seele gesprochen, wie es immer heißt. Aber es hat definitiv einen Nerv getroffen und mir neue Denkanstöße gegeben. Im Grunde ist es mir nämlich auch klar, dass es absolut nicht gut für mich (und meine privaten wie beruflichen Beziehungen) ist, wenn ich mich immer nur zurücknehme. Mein Spielebacklog wird dadurch schließlich auch nicht kleiner .
An dieser Stelle also eine klare Leseempfehlung für das Werk, wenn ihr es noch irgendwo finden könnt. Obwohl es eigentlich ein Fachbuch ist, ist es tatsächlich relativ einfach zu lesen. Vermutlich deshalb, weil immer wieder das ganze Anhand von Anekdoten erzählt wird und weniger wissenschaftliche Zusammenhänge oder sowas. Und jetzt entlasse ich euch noch mit diesem Gedanken der Autoren:
Alle größeren Systeme – politischer, religiöser, erzieherischer oder familiärer Art – arbeiten mit Angst und Schuld, um Herrschaft, Kontrolle oder Lernen zu erzwingen. (Paul & Paul, 2000, S. 255)