Redakteure sitzen Stunden, teilweise sogar Tage über einem Test. Und selbst nachdem der Text fertig ist, wird hier noch eine Formulierung verfeinert und dort noch ein besser klingendes Synonym eingefügt bis die Abgabefrist vor der Tür steht und das Werk endgültig in den Druck geht oder anderweitig veröffentlicht wird. Und was macht der Leser dann am Ende anstatt das Meisterwerk zu verinnerlichen? Er schaut sich zuerst die Wertung an! Egal ob es eine Zahl, ein Buchstabe oder nur eine Reihe von Symbolen ist, der Anziehungskraft dieser Zusammenfassung können sich nur die wenigsten entziehen.
Aber nicht nur der Leser legt starken Wert auf die Endwertung - auch die Entwickler und vor allem Publisher messen den Erfolg ihres Produktes stark daran wie hoch die Zahl auf Seiten wie GameRankings.com oder Metacritic.com steigt. Gehaltsboni aufgrund hoher und Ausgleichszahlungen an die Lizenzgeber durch niedrige Wertungen sind nicht erst seit gestern an der Tagesordnung. Wertungen besitzen soviel Macht, dass sogar der Aktienkurs durch sie beeinflusst wird. So verloren Wertpapiere von Activision im Mai 2007 nach den schlechten Bewertungen der Lizenzumsetzung Spider-Man 3 und einer damit verbunden Analystenwarnung an einem einzigen Tag satte 5% an Wert. Bei dieser einflussreichen Bedeutung, ist es sehr verwunderlich, dass es zum einen kein einheitliches Wertungssystem gibt und zum anderen das beliebteste System stark in der Kritik steht.
Die Anderen
Anders als in der Filmindustrie, in der sich ein System aus fünf Sternen mit 0,5er Schritten schon lange durchgesetzt und bewährt hat, scheint in der Videospieleindustrie stattdessen jedes Magazin das Rad neu erfinden zu wollen.
Bereits in der Grundlage gibt es drei unterschiedliche Herangehensweisen, die derzeit die Medien dominieren: Ein Fünfersystem mit 0,5er Schritten wie es GameSpy oder G4TV nutzen bzw. ein echtes Zehnersystem welches unter anderem bei EDGE zum Einsatz kommt, die Nutzung des amerikanischen Schulnotensystem mit Noten von A+ bis F- wie es 1UP tut und als dritte Variante das augenscheinlich beliebteste und meistdiskutierteste System von allen: die Prozent- bzw. 100 Punktewertung. Vor allem in Deutschland nutzt so gut wie jedes Magazin das letztere System und auch GameRankings.com und Metacritic.com nutzen es.
In den ersten drei Varianten, die noch am ehesten an das System der Filmindustrie herankommen, gibt es minimal 10 und maximal 36 Möglichkeiten (im Falle des Schulnotensystems). Das macht die Einteilung übersichtlicher und verständlicher für den Leser und es zwingt den Redakteur geradezu dazu den gesamten Spielraum zu nutzen. Ein Spiel das "Sehr Gut" ist, kann im Zehnersystem nur im Bereich 8-10 liegen, meist sogar nur 8-9. Bei der Prozentwertung sind es hingegen 100 Möglichkeiten. Um jedoch die Wertungsfindung für den Tester auch hieretwas zu erleichtern und die Bedeutung der Zahlen für den Leser klarer zu gestalten, unterteilen die Magazine die 100 Prozent/Punkte durch die Bank noch einmal in 10er-Schritte und geben diesen Bereichen noch einmal einen Überbegriff wie "91-100% = Herausragend" - zumindest in der Theorie.
Der Ablauf
Magazine wie die PC Action werfen stattdessen bereits alles unter 40% in den Topf "Ungenügend" und machen sich gar nicht weiter die Arbeit diese auch noch weiter aufzusplittern. Hinzu kommt, dass die weiteren Bereiche zwar in 10er Schritte unterteilt sind, sich der Abstand zwischen einem Prozentpunkt jedoch immer weiter erhöht. Die Qualität die ein Spiel vorweisen muss um von einer 89% auf 90% zu kommen ist unlängst höher angesetzt als die nötige Steigerung von 71% auf 72%. Somit ist es nicht weiter verwunderlich wenn effektiv nur Wertungen im Bereich 60-100% vergeben werden und der Vorwurf kommt, dass nicht das komplette Wertungsspektrum ausgenutzt wird.
Das es auch anders geht, zeigt die PC Gamer (US). Sie unterteilt nicht nur die 100% in genau zehn Teilbereiche für die grobe Einschätzung, sie nutzt auch das gesamte Spektrum aus. Da sind Wertungen im Bereich 30-70% selbst für Titel, die bei uns 70-90% erhalten, keine Seltenheit. Dafür kämpft das Magazin jedoch mit Problemen, die nicht direkt mit dem Wertungssystem, sondern eher mit Exklusivdeals mit Entwicklern zusammenhängen und nicht das Thema dieses Artikels sind. Am Ende stellt sich jedoch auch hier die Frage nach dem Sinn.
Stundenlange Wertungskonferenzen werden in den Redaktionen abgehalten nur um die Frage zu diskutieren ob ein Spiel nun die 81% Spielspaßwertung oder doch die 82% erhält. So entsteht auch ein großer Druck auf die Redakteure jedes Pünktchen genau zu rechtfertigen. Und auch die Entwickler fühlen sich genötigt die exakten Kriterien herauszufinden die dafür sorgen einen Punkt nach oben oder nach unten zu wandern anstatt die Energie in ein gutes Gesamtpaket zu stecken. Dabei wäre es sowieso sinnvoller zu fragen, warum es überhaupt so wichtig ist einen bereits als "Sehr Gut" eingestuften Titel noch einmal im oberen, mittleren oder unteren Bereich von "Sehr Gut" festzusetzen.
Die Wissenschaftler
Die GameStar, obwohl sie auch auf ein 100 Punktesystem setzt, versucht diese Frage zu umgehen, indem sie die Endwertung aus zehn Teilwertungen zusammensetzt und das Spiel analytisch in seine Einzelteile zerlegt wird. Aus Einzelwertungen für Grafik, KI und ähnlichem soll dadurch eine absolut objektive und vor allem faire Wertung entstehen. Ob es ihr tatsächlich gelingt, sei einmal dahin gestellt. Im Endergebnis hat die GameStar trotz ihres Systems auch damit zu kämpfen, dass sie effektiv nur das Spektrum 60-100 Punkte nutzt und der Rest unter den Tisch fällt.
Die Ursache liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Teil wieder in einer ungleichmäßigen Verteilung der zehn Punkte in den Teilwertungen, aber es steckt natürlich noch mehr hinter der gesamten Problematik. Das die Magazine aufgrund von Zeitmangel schon gar nicht die wirklich schlechten Titel testen, ist da nur eine weitere mögliche Begründung. Das Ergebnis ist am Ende jedoch, dass nicht einmal die Wertungen zweier Magazine zu einem Spiel wirklich miteinander vergleichbar sind.
Dadurch wird besonders deutlich, dass gerade die Prozentwertung stark dafür verantwortlich ist, dass in der Spielepresse irgendetwas grundlegend falsch zu laufen scheint.
Das Problem
Anstatt die Spiele als das zu sehen was sie sein sollen, nämlich ein reines Unterhaltungsmedium und nicht als Waschmaschine, ist daraus eine Wissenschaft entstanden, die weit über den Sinn hinter einer Film-, Musik- oder Sonstwas Kritik hinausgeht und so viel zu ernst geworden ist. Der Zwang jedes Prozentpünktchen exzessiv zu rechtfertigen, ließ den Redakteuren gar keine andere Wahl. Dabei soll eine Kritik durch Empfehlung oder Ablehnung des Autors zu eigener kritischer Haltung anregen und nicht die Macht besitzen Aktienkurse und vor allem Leser so zu beeinflussen, dass sie denken, sie müssten sich gar keine eigene Meinung mehr bilden.
Paul Wedgewood, Studio Director bei Splash Damage (Enemy Territory: Quake Wars) sagte in einem Interview mit GameIndustry.biz:
"[...]the games press should take the pressure off themselves, and just go across to star ratings, which for films is nothing more than a recommendation that you buy it, watch it when you get the chance, or rush out and see it straight away, and it's your personal recommendation. It's not a "score".[...]"
Und nicht nur viele Entwickler teilen diese Ansicht - auch Journalisten, Publisher und sogar Leser wünschen sich eine realitätsnähere Herangehensweise. Aber in den letzten 30 Jahren ist ein selbstgeschaffener Teufelskreis entstanden, der sich mittlerweile so stark eingefahren hat, dass es ohne in der gesamten Branche gleichzeitig die Handbremse reinzuhauen und eine 180° Drehung zu vollziehen nicht mehr möglich ist daraus zu entkommen. Schon alleine weil dank der nicht wirklich optimalen Verwendung der Prozentwertung dem Großteil der Leser über Jahre eingetrichtert wurde, dass Spiele mit weniger als 83% keines Blickes wert sind. Und dies, obwohl selbst die Magazine bis 71% den Bereich der guten Spiele definieren.
Bevor sich irgendetwas ändern wird, muss sich deshalb erst eine neue Generation an Redakteuren bilden, die mit sich eine neue Generation an Lesern aufzieht. Bis dahin wird uns die Prozentwertung noch lange erhalten bleiben und jedes Magazin daraus weiterhin sein eigenes Süppchen kochen um es als das einzig Wahre verkaufen.[CH]
(Veröffentlicht am 22.01.2009)